Es ist das schönste Yoga-Buch, das ich kenne. „Awakening the Spine“ von Vanda Scaravelli blättert auf ungemein poetische Weise das Wissen auf, das eine hochgebildete, kluge Italienerin über Yoga erfahren hat. „Erfahren“, das meint hier mehr als nur von anderen gelernt. Und schon das Gelernte kann sich bei ihr sehen lassen. Sie war Schülerin zweier der größten Lehrer des 20. Jahrhunderts, von B.K.S. Iyengar und T.K.V. Desikachar (die Abkürzungen der komplizierten Vornamen sind bei den beiden Standard, auch wenn es sich für Außenstehende seltsam liest). Scaravellis Stil ging jedoch darüber hinaus. Sie entwickelte eine ganz eigene Richtung aus ihrem Körperbewusstsein heraus. Aus dem, was ihr Körper ihr mitteilte, bevor sie sich in eine Haltung begab (Beitragsbild: Shutterstock).
Scaravalli, die von 1908 bis 1999 lebte, wollte ein Yoga ohne Stress kreieren. Das Hören auf den Atem, die Hingabe an die Schwerkraft und das Erzeugen einer Welle im Körper sollten als Leitfaden dienen. Aber auch die korrigierenden Hands-On des Lehrers. Jener hilft zu erspüren, wo losgelassen werden kann. Wo unnötige Festigkeit regiert. Scaravalli erläutert im Buch mit wunderbar passenden, aus Natur, Malerei, Musik und Tanz kommenden Bildern, dass sie von der weichen Wirbelsäule der Kinder ausgegangen sei. Erwachsene hätten hingegen eine schwere, erstarrte Wirbelsäule. Wenn sie ihre erlernten Bewegungsmuster hinter sich ließen, könnten sie mithilfe von Atem, Schwerkraft und Hingabe ihre Biegsamkeit wiedergewinnen. Das hört sich äußerst anziehend an. So findet man in „Awakening the Spine“ wunderbare Inspirationen und weise Gedanken, die die eigene Lebenssicht enorm bereichern. „Erlesen“, das ist wohl die Vokabel, die Scaravellis kultivierten Stil am besten beschreibt.
Scaravellis Sichtweise wird weltweit immer noch von einigen Schülern gelehrt. Und nennt sich dann „Intuitives Yoga“. Eine große Bewegung wie bei Iyengar oder dem von Pathabbi Jois geprägten Ashtanga Yoga ist daraus nicht geworden. Daran war sie auch nicht unbedingt interessiert. Denn hier drehte sich alles um die persönliche Weitergabe des zu Lernenden.
Ich habe ein paar Mal Stunden im „Intuitiven Yoga“ absolviert, bin allerdings zugegebenermaßen kein Fan davon geworden. Es ist tatsächlich so, dass man erst nach ein paar Lektionen eine leise Ahnung von der Leichtigkeit bekommt, die sie wohl meinte. Mit einer Stunde Schnuppern ist es nicht getan. Wer weiter geht, erfährt wahrscheinlich einen herrlich stressfreien Yoga. Welcher Meilen entfernt ist von härteren, nicht gerade körperfreundlichen Stilen wie etwa Sivananda. Aber auch nicht über den eleganten Flow verfügt, wie ich ihn bei präzise arbeitenden Lehrern wie Patrick Broome, David Regelin oder Patricia Thielemann erfahren durfte.
Mir persönlich fehlt einfach das Gleichgewicht zwischene Spannung und Entspannung – die Erdung, die Kraft, die Aktivierung der tiefen Core-Muskulatur, die wir so dringend im Alltag brauchen. Zudem empfand ich die kritische Mahnung der Lehrer zum Lösen als derartig anstrengend, dass ich am Anfang total verspannt war.
Allerdings neige ich etwas zu Hyperflexibilität und brauche daher eher Kraft und Tonus als ein weiteres Lösen. Vanda Scaravelli selbst bog sich in hohem Alter in die unglaublichsten Posen. Doch sieht man auf Bildern von ihr auch, wie überdehnt ihre Bänder waren. Ein überstreckter Nacken und ein leichter Rundrücken kamen hinzu – was auch bei einigen Fotos ihrer Meisterschülerinnen Diane Long und Sophy Hoare deutlich wird. Vielleicht wäre ein bisschen mehr Stabilität hilfreich gewesen. Dennoch: Es lohnt sich absolut, diesen verfeinerten und ungewöhnlichen Stil einmal auszuprobieren. Und gerade wenn man eher mit zu viel Anspannung und Kraft durchs Leben geht, mag Scaravelli helfen.
In Deutschland gibt es übrigens auch einige wenige Scaravelli-Lehrer. Wichtig beim Schnuppern: Das Aha-Erlebnis stellt sich nicht sofort ein. Man sollte auf jeden Fall ein paar Mal hingehen. Und dann erwacht vielleicht die Wirbelsäule. Die Faszien, die Bindegewebsstrukturen, die sich so schnell bei uns zusammenziehen und regelrecht verkleben, öffnen sich in jedem Fall.
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